Integration: „Der Unterschied ist unsere Stärke“

Volksstimme – Sie reden nicht über Integration, sondern tun etwas dafür – vier Porträts preisgekrönter Projekte und der Menschen dahinter. Mit rechter Gewalt und Ausländerfeindlichkeit landet Sachsen-Anhalt oft in den Negativschlagzeilen. Meist unbemerkt von der Öffentlichkeit stehen aber auch viele Menschen für ein tolerantes und weltoffenes Miteinander ein. Das Land ehrt sie mit dem Integrationspreis.
Von Andreas Stein

Halle/Stendal/Magdeburg

Es ist knapp zehn Jahre her, da haben die Lehrer der Magdeburger Grundschule am Umfassungsweg die Flucht nach vorne angetreten. „In unseren Klassen saßen Kinder, die uns nicht verstanden, die wir nicht verstanden. Wir erreichten diese Schüler und ihre Eltern nicht mehr“, erinnert sich Angela Hertrich-Majchrzak an das Schul­jahr 1999/2000. Die Pä­da­­go­gen mussten fest­stel­len, dass der bis dahin bewährte Unter­richt bei der wachsenden Zahl der Kinder mit Migra­tions­hinter­grund, Leis­tungs­schwä­chen, emo­tio­nal-sozi­alen Auf­­fällig­­keiten und För­der­bedarf an Grenzen stößt. „Der Lei­dens­druck wuchs, wir hatten tiefe Zweifel an der Nach­haltig­keit unserer Arbeit“, denkt Angela Hertrich-Majchrzak zurück. Die Lehrer und päda­gogischen Mit­ar­bei­ter, alle­samt im 1995 gegründeten Schul­för­der­verein, suchten und fanden des­halb neue Unter­richts­formen, die selbs­ständiges Ler­nen, Sozial­kompe­tenzen und Kom­muni­kations­fer­tig­keiten för­dern. Ein Jahr­zehnt spä­ter sind Schü­ler­zah­len und Kollegium stark geschrumpft. Um 140 Kinder aus 13 Nationen kümmern sich ins­ge­samt 14 Lehrer, päda­gogische Mit­ar­beiter und Schul­sozial­arbeiter. Sie setzen auf gemein­sames Lernen in gemischten Gruppen und können sich bei Bedarf intensiv um einzelne Kinder kümmern. Der Blick in die Her­kunfts­länder der Kinder ist fester Bestand­teil des Unter­richts. Ein Jahr­zehnt später sind Schüler­zahlen und Kolle­gium stark geschrumpft. Um 140 Kinder aus 13 Nationen kümmern sich insge­samt 14 Lehrer, päda­go­gische Mit­arbeiter und Schul­sozial­arbeiter. Sie setzen auf gemeinsames Lernen in gemischten Gruppen und können sich bei Bedarf intensiv um einzelne Kinder kümmern. Der Blick in die Herkunftsländer der Kinder ist fester Bestand­teil des Unter­richts.

Nach Schul­schluss werden aus Lehrern ehren­amt­liche Förder­ver­eins­mit­glieder. Sie kümmern sich um ide­elle und finan­zielle Unter­stüt­zung, setzen sich mit den Eltern der Kinder an einen Tisch, orga­ni­sie­ren Chor­fahrten und The­ater­besuche, ver­teilen ein gesundes Frühstück. Im kommenden Jahr will die Grund­schule außer­dem Mit­glied des Netz­werkes „Schule ohne Rassis­mus – Schule mit Cou­rage“ werden. „Anders­sein ist keine Last, sondern eine päda­go­gische Aufgabe, die unseren Schul­alltag ausmacht und der Schule ein einmaliges Gesicht verleiht“, ist Angela Hertrich-Majchrzak überzeugt.

„Allen Kindern helfen - egal, woher sie gekommen sind“

Integration? Ist ein Kinder­spiel! Zumin­dest im Hort der Franck­eschen Stif­tungen in Halle. Für Hort­lei­terin Christiane Hohlfeld sind alle Kinder gleich, egal wer sie sind oder was sie erlebt haben. Plattenbau-Hochhäuser des Hallenser Arbeiterviertels Glaucha werfen ihre Schatten auf das Hortgebäude, es sei eine schwierige Ecke mit vielen Einwanderern, berichtet Christiane Hohlfeld. Die 200 Kinder ihres Hortes kom­men aus der nahen Stiftungsgrundschule, 80 davon haben einen Migrationshintergrund, stammen aus 20 ver­schie­denen Län­dern. Schon der Stif­tungs­grün­der, der Pädagoge und Kirchenmann August Hermann Francke, wollte den Kin­dern Glau­chas helfen – egal, wo­her sie kommen. Diesem Credo folgen auch Christiane Hohlfeld und ihre Mit­­ar­bei­ter. „Unsere Arbeit hat sich aus der Kin­der­struk­tur ent­wickelt, nicht umge­kehrt“, betont sie. Ein festes Konzept gebe es nicht. Die Kinder sollen lernen, wie das Leben funktioniert, hier und überall auf der Welt. Haben sie Probleme mit der deutschen Sprache, werden sie zusätzlich gefördert – aber zum Erstaunen vieler El­tern auch ermu­tigt, wei­ter ihre eigene Sprache und Kul­tur zu leben.

„Manche kön­nen an­fangs gar kein Deutsch, und es funk­ti­o­niert trotz­dem“, er­zählt Mit­ar­bei­terin Katrin Henze. Und wie? Die Kinder sind sehr offen, haben nahezu keine Be­rüh­rungs­ängste. Wo Hände, Füße und Mimik nicht aus­reichen, helfen die Erzie­her mit mehr­spra­chigen Büchern und Spie­len beim Brücken­schlag, dolmetschen untereinander und für ihre Eltern. Den Integrationspreis erhielt der Hort für das Projekt „Viel(falt) erleben“, bei dem die Kinder drei Monate lang durch Spiele, Bilder, Gespräche mit den Eltern, aber auch gemeinsames Kochen die Herkunftsländer der Kinder bereisen. „Auch jetzt in der Weihnachtszeit schauen wir, wie das Fest rund um die Welt gefeiert wird, hören Lieder und Gedichte aus der Heimat der Kinder“, berichtet Christiane Hohlfeld. Wo Eltern und Hort­per­so­nal nicht wei­ter­kommen, helfen Ex­per­ten von der Hallenser Uni­ver­si­tät, aus Schulen und anderen Ein­rich­tungen der Francke­schen Stif­tungen. „Inte­gra­tion funk­ti­o­niert nur, wenn das Her­kunfts­land wert­ge­schätzt wird“, ist Hohlfelds Erfahrung. Sie hofft, dass die Arbeitsweise ihres Hortes Modellcharakter hat und anderen Mut macht. „Migrationshintergrund ist kein Makel oder Status, sondern gelebte Normalität.“

Zuwanderer in Stendal nehmen Integration in die eigene Hand

Eine Tradition wie die der Franckeschen Stif­tungen können die Mit­glie­der der Sten­daler Migran­ten­ini­tia­ti­ve, kurz SteMi, nicht vor­weisen – wohl aber ähn­liche Leit­ge­dan­ken. Vor drei Jahren haben sich zehn Zu­wan­derer unter­schied­lichs­ter Her­kunft zusam­men­gefunden, um Seni­oren und Kin­dern in Kitas und Schulen zu erzählen, wo sie herkommen und was sie bewegt. „Der Unter­schied ist unsere Stärke“, lautet ihr Motto. Sie suchen die Öffent­lich­keit, um Vor­ur­teile abzubauen, für Tole­ranz zu wer­ben und Ver­ständ­nis für Zugewanderte zu wecken.

Dabei hilft Liane Bischoff, Ko­or­di­na­to­rin des Stendaler Inte­gra­tions­netz­wer­kes. Sie stellte der SteMi Räume zur Ver­fügung und half bei den ersten Schrit­ten in die Öffent­lich­keit. In der Stadt und im Land­kreis Stendal hängt man die Inte­gra­tion Ein­wan­derer beson­ders hoch an: Kreis­tag und Stadt­rat ver­ab­schie­deten in die­sem Jahr be­reits einen Rahmen­plan zur Inte­gra­tion. Sie müsse einen zent­ralen Stellen­wert in der Kom­munal­poli­tik ein­nehmen und könne nur dann er­folg­reich sein, wenn sie als Quer­schnitts­aufgabe ver­stan­den wird. Die SteMi macht be­reits er­folg­reich vor, wie es geht.

Ein Refugium für geflüchtete Kinder und Jugendliche

Die poli­tische Hilfe von „ganz oben“ würden sich die 20 Mit­­glie­­der des Magde­­bur­­ger Ver­eins „Refugium“ manch­mal wünschen. Sie wollen unbe­glei­­teten min­der­jährigen Flücht­­lingen helfen, von denen jedes Jahr etwa 4.000 nach Deutsch­land kommen. 70 bis 100 dieser Kinder und Jugend­lichen werden von der zentralen Auf­nahme­stelle auch nach Sachsen-Anhalt geschickt. Die Ver­eins­mit­glieder über­nehmen in Ab­spra­che mit den Jugend­däm­tern die Vor­­mund­­schaft und kümmern sich um auf­ent­halts­recht­liche Fragen und Be­hör­den­gänge. „Wir helfen unseren Münd­eln aber auch, All­­tags­­sorgen, die Flucht­­erfah­­rungen und Zukunft­s­ängste zu ver­­ar­­bei­­ten“, sagt die Vor­stands­­vor­sit­zen­de Monika Schwenke.

Aktuell betreuen die Mit­glie­der 38 Kinder und Jugend­liche als direkte Vormünder. Zwei Drittel kommen aus Vietnam, der Rest aus Krisen- und Kriegsgebieten wie Afghanistan. „Wir wünschen uns, dass die Kinder in Sachsen-Anhalt eine Chance bekommen“, bekräftigt Refugium-Mitglied Roland Bartnig.

Doch das Span­nungs­feld zwi­schen Auf­ent­halts-, Kin­der- und Jugend­recht sorge oft dafür, dass die jungen Zu­wan­derer nicht dem Kin­des­wohl ent­spre­chend be­han­delt werden. „Oft wer­den sie bewusst älter gemacht, ins Asyl­ver­fah­ren gedrängt und bekom­men keine Kin­der- und Jugend­hilfe“, weiß Monika Schwenke. Bei Unter­bringung, Schul­besuch, Berufs­aus­bil­dung und ärzt­licher Ver­sor­gung seien die Kinder grund­sätz­lich schlechter­gestellt.

Ihre Ängste und Erfahrungen haben die Kinder im preisgekrönten Projekt „Zukunfts(bilder)“ in Gemälden und Plastiken zum Ausdruck gebracht. Sie sind zurzeit in der Kathedrale St. Sebastian in Magdeburgs Innenstadt zu sehen. Fawad, zu Fuß aus Afghanistan geflohen, will wie viele Zuwanderer in die Zukunft blicken: „Wenn ich es bis hierher geschafft habe, schaffe ich es auch weiter.“