Keine Angst machen lassen

Tag des Herrn / kna – Zuwanderung und Flüchtlinge stehen ganz oben auf der gesellschaftspolitischen Agenda. In immer mehr Städten formieren sich Protestbewegungen und fordern eine Verschärfung des Asylrechts. Bund und Länder vereinbarten eine stär­kere Kooperation. In dieser Gemen­ge­lage besuchte Bun­des­prä­si­dent Joachim Gauck den Caritas-Flücht­lings­hilfe­ver­ein „Refugium“ in Magde­burg.

„Ein vorbildliches Projekt, das Schule machen sollte“, lobte Gauck. „Wir müssen solche Geschichten des Gelin­gens erzählen – gegen eine Kultur der Angst­macher.“ Ihre Schick­sale, von denen die meist 15, 16 Jahre alten Jungen berich­teten, zeig­ten dem Staats­ober­haupt: Es gibt tolle Hilfs­pro­jekte, aber Büro­kra­tie, Gesetz­gebung und Will­kür legen den inte­gra­tions- und lern­willigen jungen Flücht­lingen auch man­che Steine in den Weg. Da ist etwa ein junger Afri­kaner, der vor drei Jah­ren allein nach Deutsch­land kam. Mit Unter­stüt­zung von „Refugium“ fasste er Fuß, machte den Haupt­schul­ab­schluss und begann eine Aus­bil­dung. Jetzt ist er 18 Jahre alt gewor­den und fällt damit aus der Jugend­hilfe. Ein neuer Status mit großer Trag­weite: Es droht ihm die Ab­schie­bung, und die fi­nan­ziel­le Unter­stüt­zung fällt weg. Er hat Bafög bean­tragt – doch für die Aus­bil­dungs­unter­stüt­zung müsste er min­des­tens schon vier Jahre in Deutsch­land sein.

Bundespräsident Joachim Gauck im Gespräch mit minderjährigen Flüchtlingen im „Refugium“ in Magdeburg. (Foto: kna-bild)

„Die jungen Flücht­linge be­las­ten solche Zu­kunfts­ängste massiv“, be­rich­tete der So­zial­ar­bei­ter Roland Bartnig. Bei „Refugium“ ist er der­zeit Vor­mund für 38 un­be­glei­tete Flücht­linge, 6 wei­tere Anträge lie­gen be­reits beim Amts­ge­richt. Der Jüngste ist ge­ra­de mal acht Jah­re alt und mit sei­nem grö­ße­ren Bru­der mit­tels Schleu­sern nach Deutsch­land gekom­men. „Durch die zu­neh­men­den Kri­sen­ge­biete, vor allem Sy­rien, mer­ken wir einen deut­li­chen Anstieg“, sagte Bartnig. „In die­sem Jahr werden es wohl an die 30 neue Vor­mund­schaf­ten sein, das ist eine Ver­drei­fachung gegen­über den Vor­jahren.“

Einzige Aufnahmestelle für min­der­jährige unbegleitete Flüchtling ein Sachsen-Anhalt

„Refugium“ arbeitet eng mit der Mag­de­bur­ger Clea­ring­stelle der Cari­tas zusammen, der einzigen Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung für un­be­glei­tete min­­der­­jäh­rige Flücht­­linge in Sachsen-Anhalt. Dort wird zu­nächst nach mög­lichen Ange­hö­ri­gen in Deutsch­land gesucht, meist erfolglos. Parallel erhalten die Kinder und Jugend­lichen Deutsch­unter­richt, da sie wäh­rend der Wochen in der Clea­ring­stelle noch nicht in eine Schule dürfen.

„Die Jugend­lichen sind durch­weg hoch moti­viert und sehr ehr­gei­zig, sie wissen, dass Bil­dung ihre ein­zige Chance ist“, erklärte Bartnig. Nicht ohne Stolz bilan­zierte er, dass von den 241 jungen Flücht­lingen, die „Refugium“ seit der Gründung vor 17 Jahren betreut hat, mehr ihr Abitur gemacht haben als die Schüler Sachsen-Anhalts im Durch­schnitt.

Gauck lobte die Arbeit des Vereins und das En­ga­ge­ment von Kirche und Cari­tas als ein Beispiel, das auch in anderen Bundes­län­dern Schule machen sollte. Solch posi­tive Pro­jekte müssten viel stärker in der Öffent­lich­keit bekannt werden. „Wir dürfen die Hoheit über die Zuwan­de­rungs­debatte nicht Chaoten und wenig hilf­reichen Strö­mungen über­lassen“, mahnte Gauck. „Wir werden uns nicht von Brand­stif­tern jeder Cou­leur in Angst­­stra­­te­gien jagen lassen.“ Zu­gleich for­­der­te das Staats­­ober­­haupt eine offene gesell­schafts­po­li­tische Debatte darüber auf, wie viele Flücht­linge Deutsch­land aufnehmen könne. „Nicht darüber zu reden, bestärkt jene, die diffuse Ängste schüren.“

Mit Blick auf die neue Koope­ration von Bund und Ländern appel­lierte Gauck an die Verant­wort­lichen, in der Gesetz­gebung auch die Probleme von unbe­glei­teten min­­der­­jäh­rigen Flücht­­lingen stärker zu berück­sich­tigen, etwa beim Zugang zu Schule und Aus­bil­dung. „Wir brau­chen neue Lösungs­wege für diese jungen Men­schen, und ich bin sehr dankbar, dass es trotz der gegen­­wär­tigen Pro­bleme so ein großes En­ga­ge­ment für diese Flücht­linge gibt.“