Die Herausforderungen eines Vormundes

MDR SACHSEN-ANHALT – Der Magdeburger Verein „refugium“ hat mehr als 20 Jahre lang Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt übernommen. Vorsitzende Monika Schwenke erzählt, was die Herausforderungen dieser Aufgabe sind und wie refugium sie löst. MDR schaut auf die Arbeit des Magdeburger Vereins „refugium“ bei der Vormundschaft für minderjährige Flüchtlinge.
Von Maria Hendrischke

Vor Krieg und Armut suchen Menschen in Deutschland Zuflucht. Unter den Flüchtlingen findet sich eine besonders schutzbedürftige Gruppe: unbegleitete Minderjährige. In Sachsen-Anhalt setzt sich ein Verein aus Magdeburg für diese Kinder und Jugendlichen ein, indem er Vormundschaften für sie übernommen hat. Und das nicht erst seit 2015, als wegen des Kriegs in Syrien besonders viele nach Deutschland flüchteten, sondern bereits seit 1997. Seit 2019 führt der Caritasverband für das Bistum Magdeburg in Kooperation mit refugium die Vereinsvormundschaften.

Refugium hat seit Vereinsgründung mehr als 400 Vormundschaften für geflüchtete Minderjährige übernommen. Monika Schwenke ist ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins. Hauptaufgabe eines Vormunds sei die rechtliche Vertretung des minderjährigen Flüchtlings – und zwar stets im Sinne des Kindeswohls, erklärt sie.

Was macht refugium e.V.?

Der Magdeburger Verein refugium ist 1997 gegründet worden und hat Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt übernommen. Vier hauptamtliche Vormünder haben die rechtlichen Interessen ihrer minderjährigen Mündel vertreten. Sie entscheiden beispielsweise, ob ein Asylantrag gestellt wird. Refugium setzt sich als freier, zivil­gesell­schaft­licher Träger dafür ein, dass die Rechte der Kinder und Jugendlichen ohne Interessens­kon­flikte gewahrt bleiben.

Außerdem bietet refugium Beratungen und Coachings für ehrenamtliche Vormünder sowie Amtsvormünder des Jugend­amts an und organi­siert Fach­veran­stal­tungen, Workshops und einen Stammtisch für Ehren­amt­liche. Seit 2019 arbeitet der Verein in Kooperation mit dem Caritasverband für das Bistum Magdeburg. Die vier hauptamtlichen Mitarbeiter von refugium sind seitdem bei der Caritas eingegliedert.

Monika Schwenke leitet die Ab­tei­lung Migration und Inte­­­gra­tion bei der Caritas Mag­de­­burg und ist ehren­­amt­liche Vor­sitz­ende des Ver­eins refu­gium. Schwenke sammelt Spenden, über­­nimmt poli­­tische Lobby­­arbeit und Per­sonal­­füh­­rung. Sie hat unter anderem ent­schie­den, sich ehren­­amt­­lich für Flücht­lings­kinder ein­zu­set­zen, weil sie selbst Mutter ist. Als Chris­tin ist es ihr au­ßer­­dem wich­tig, Men­­schen in Not zu helfen.

Verantwortungsvolle Aufgabe mit Kindeswohl im Blick

Die Vormünder müssen sich mit Jugend­recht und Aus­län­der­recht beschäf­tigen. Und sie haben nicht nur mit recht­lichen Akteuren wie Jugend­amt, Ausländer­behörde und Familien­gericht zu tun. Sie müssen sich auch mit Bildungs­trägern beschäf­tigen, die etwa Sprach­kurse anbieten. Sie organi­sieren auch Freizeit­aktivitäten, sodass die Geflüch­teten mit deutschen Kindern und Jugend­lichen in Kontakt kommen. „Breites Portfolio, viele kleine Heraus­for­der­ungen, aber immer mit Blick auf das Kindes­wohl“, fasst Schwenke zusammen. Und werde der Antrag bewilligt, gebe es seitens des Gesetzes mehr Mög­lich­kei­ten für Inte­gra­tions­maß­nah­men.

Der Betreuer muss eine Entscheidung treffen, die große Auswirkungen auf das Leben des Mündels haben kann: ob ein Asylantrag gestellt wird. „Bei Ländern, wo wir wissen, dass es im Asylverfahren eine Chance auf Bewilligung gibt, stellen unsere Vormünder sofort einen Antrag“, sagt Schwenke. Denn für Minderjährige gibt es speziell ausgebildete Anhörende.

 Stünden die Chancen auf Asyl wegen des Her­kunfts­lands dagegen schlecht, könne der Vormund entscheiden, zunächst nur eine Duldung zu erreichen. So könne für den Geflüch­teten zumin­dest bis zum 18. Geburts­tag Stabi­li­tät und ein sicherer Status gewon­nen werden.

Aufgabe eines Vormunds kann auch sein, für sein Mündel Freizeitaktivitäten zu organisieren, wie hier beim Projekt „Colourful Balling“ vom Basketball-Verband Sachsen-Anhalt. (Foto: BVSA)

Traumatisiert durch Fluchterfahrung

Neben der Verantwortung und den vielen Akteuren birgt die Vormundschaft noch weitere Herausforderungen. Fehlende Sprach- und Kulturkenntnisse erschwerten die Arbeit. Und: „Es sind Minderjährige, die eine Fluchtgeschichte hinter sich haben“, sagt sie.

Viele Flüchtlingskinder berichteten erst nach längerer Zeit Details von ihrer Flucht, wenn sie Vertrauen gefasst hätten. Schwenke erinnert sich an einen Jungen, der erzählte, dass er eigentlich gemeinsam mit seinem Vater bis nach Griechenland geflüchtet sei. „Dann sagte der Vater, er müsse noch ein paar Gespräche führen – und ist nie wiedergekommen.“ Der damals etwa 14-Jährige habe sich drei Monate als Obdachloser in Griechenland durchgeschlagen, bis er sich einer Gruppe angeschlossen habe und weitergewandert sei. Internationalen Organisationen berichteten zudem, dass alleinreisende Minderjährige Gefahren wie Zwangsprostitution, Misshandlung und sexuellen Übergriffen ausgesetzt seien.

Aus welchen Ländern flüchten Minderjährige nach Sachsen-Anhalt?

Refugium hat seit Vereins­grün­dung Kinder und Jugend­liche aus 47 Herkunfts­ländern begleitet. 2018 kamen die meisten betreuten Kinder und Jugend­lichen aus Syrien, gefolgt von Afghanistan. Die Herkunfts­länder zeigten, was gerade in der Welt passiere – wo bei­spiels­weise Bürger­kriege statt­fänden oder Schleu­ser­gruppen aktiv seien, sagt Schwenke. So habe refugium in den 1990er Jahren bis Anfang der 2000er viele viet­na­me­sische Mündel betreut. „Dann flog der Schleu­ser­ring auf – seitdem kam keiner mehr.“

Aus Somalia kämen öfter Mädchen, weil in diesem Land Zwangs­verhei­ratung und auch Genital­verstüm­melung Ursachen einer Flucht seien, erklärt Schwenke. Die Minder­jährigen aus Syrien seien dagegen über­wie­gend Jungen, da die Familien ihre stärksten Kinder los­schickten, die die Flucht durchhalten können. Eine Gruppe hat refugium laut Schwenke nie betreut: Roma. „Die lassen ihre Kinder nicht allein. Wenn, dann ziehen sie in der ganzen Familien­gruppe.“

Zu wenige Therapieangebote

Die Erlebnisse auf der Flucht würden oft erst bei der Arbeit mit den jungen Migranten deutlich, sagt Schwenke. Bei­spiels­weise durch Konzen­tra­tions­probleme in der Schule oder Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­keiten. Auch wenn das nicht die Mehr­heit sei: Es gebe auch Jugend­liche, bei denen sie Situ­ation eska­liere, die etwa mit Selbst­mord drohten. Auf den Kindern und Jugend­lichen laste ein hoher innerer Druck. Um die Flücht­linge psycho­logisch zu betreuen, gibt es bei­spiels­weise das psycho­soziale Zentrum für Migranten mit Stand­orten in Halle und Magde­burg. Doch Termine dort seien oft über Monate ausge­bucht, berichtet Schwenke. Und: „Jeder Psycho­loge sagt: ‚Derjenige braucht erstmal einen gesicherten Status, damit er zur Ruhe kommt.’“ Solange etwa eine Abschie­bung drohe, habe eine auf längere Zeit angelegte Psycho­therapie wenig Erfolg. Kinder im Dul­dungs­status hätten zudem nur Anspruch auf Ver­sorgungs­not­leis­tungen. Dazu zähle eine Psycho­­therapie nicht. 

Schwenke wünscht sich, dass refugium Kinder- und Jugend­­psy­­chia­­trien bei der Arbeit mit Geflüch­­teten künftig fach­­liche Rat­­schläge geben kann.

Refugium kooperiert seit 2019 mit der Caritas Magdeburg.           (Foto: MDR/Maria Hendrischke)

 

Wenig Zeit, Probleme zu lösen

Der Betreuer hat meist nur wenig Zeit, den Geflüchteten zu unterstützen. Der Großteil der jungen Migranten befinde sich im Alterspektrum von 15 bis 17 Jahren, sagt Schwenke. Doch die Vormundschaft endet mit dem 18. Geburtstag. „Wenn Sie einen Jugendlichen bekommen haben, der schon 16,5 war, dann hatten Sie nur 1,5 Jahre Zeit, ihn auf seinen Lebensweg hier vorzubereiten.“ Einige ehrenamtliche Vormünder begleiteten ihren Mündel daher auch nach dem 18. Lebensjahr noch weiter, erzählte Schwenke: Als ehrenamtlicher Pate halten sie den Kontakt zu dem Flüchtling. Die Vereinsvormünder kümmern sich dagegen vorwiegend darum, dass ihre Mündel mit der Volljährigkeit in andere Projekte übergeben werden, welche die jungen Erwachsenen dann weiterbegleiten. Denn ein Vereinsvormund wendet sich dann den neu eingetroffenen minderjährigen Geflüchteten zu.

Viele minderjährige Geflüchtete 2015/16

Gerade im Jahr 2015 hat refugium sehr viele Minderjährige betreut. Denn zu dem Zeitpunkt kamen besonders viele Geflüchtete nach Deutschland. Zudem wurde das bundesweite Verteilverfahren ab Oktober 2015 erstmals auch auf Flüchtlinge unter 18 angewandt, sodass auch deutlich mehr junge Migranten nach Sachsen-Anhalt kamen. Ein Vereinsvormund von refugium habe in Hochzeiten bis zu 60 Mündel zeitgleich betreut. Das sei nicht Anspruch des Vereins, sagt Schwenke: „Wir haben uns gegründet, um die Individualität hinzukriegen und nicht wie eine Behörde eine Akte zu verwalten.“ Wegen der hohen Fallzahlen habe das Jugendamt 2015/16 verstärkt selbst Vormundschaften übernommen. Außerdem startete das Land Sachsen-Anhalt einen Aufruf, um ehren­­amt­­liche Vormünder zu gewinnen. Schwenke schätzt, dass zu der Zeit etwa 100 bis 120 Sachsen-Anhalter ehren­­amtlich Vormund geworden sind. Mittlerweile sind die Zahlen der unbegleiteten Minderjährigen wieder zurückgegangen.

Ehrenamtliches Engagement zurückgegangen

Das ehren­­amt­­liche Engage­­ment aller­­dings eben­­falls, sagt Schwenke. Einen Grund dafür sieht sie im Popu­­lis­­mus: „’Die kriegen jetzt mehr als unsere eigenen, deutschen Mitbürger‘ – diese Parolen und pau­­schalen Urteile haben dazu geführt, dass das Ehren­­amts­­engage­­ment zurück­­gegangen ist.“

Umso wert­­voller sei es, dass es nach wie vor Sachsen-Anhalter gebe, die sich für minder­­jährige Geflüch­­tete einsetzten. „Wenn man Bürger trifft, die sagen: ‚Nein, ich weiß, wie wichtig es ist, dass ein junger Mensch eine solide Beglei­­tung hat, die für ihn da ist‘ und das auch über mehrere Jahre durch­­hält – dann verdient das echt Respekt.“

Aus welchen Ländern flüchten Minderjährige nach Sachsen-Anhalt?

Minderjährige Flüchtlinge brauchen einen Vormund als recht­liche Vertretung. Dieser muss nach Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) volljährig und geschäftsfähig sein. Die Vormund­schaft kann ein Vereins­vormund wie die haupt­amt­lichen Vormünder bei refugium e.V. über­nehmen, ein Amtsvormund des Jugend­amts oder aber ein ehren­amtlicher Vormund. Wer nun die Fürsorge für minder­jährigen Migranten übernimmt, entscheidet ein Familien­gericht. Das zuständige Jugend­amt schlägt dabei dem Gericht vor, welcher Vormund geeignet wäre. Die Eignung stellt das Jugend­amt im Vorfeld durch ein Gespräch mit dem Ehren­amt­lichen oder dem Vereins­vormund fest. Folgt das Familien­gericht dem Vorschlag des Jugend­amts, wird eine sogenannte Bestal­lungs­urkunde ausgestellt, die den Vorge­schla­genen rechtlich bindend als gesetz­licher Vertreter des Flücht­lings einsetzt.