Wenn Helfer Familie werden: Ein Geflüchteter und sein Vormund erzählen

MDR SACHSEN-ANHALT – Souleymane Magassa ist als 17-Jähriger vor Krieg von Mali nach Deutschland geflüchtet. In Magdeburg ist der inzwischen 23-Jährige von Vereinsvormund Roland Bartnig betreut worden. Ein Gespräch über Rückschläge, Helfer, die Familie wurden – und kleine Schritte nach vorne.
Von Maria Hendrischke

Souleymane Magassa und sein ehemaliger Vormund Roland Bartnig (Foto: MDR/Maria Hendrischke)

Kaffee und Kuchen, ein DJ-Pult und spielende Kinder. Der Magdeburger Verein refugium hat zum Sommerfest in den Garten der St. Petri-Gemeinde geladen. Refugium hat Vormundschaften für minderjährige Geflüchtete übernommen, die allein nach Sachsen-Anhalt kommen. Das Fest an dem heißen Augustnachmittag ist für viele Gäste zugleich eine Wiedersehensfeier, entsprechend familiär ist die Atmosphäre. Mittlerweile volljährige Flüchtlinge treffen ihre ehemaligen Vormünder. Darunter auch Vereinsvormund Roland Bartnig von refugium e.V. und einer seiner mehr als 200 ehemaligen ausländischen Mündel: Souleymane Magassa. Die beiden sehen sich in diesem Jahr schon zum dritten Mal. Dabei ist Magassa bereits seit fünf Jahren volljährig – und somit längst nicht mehr im Mündel-Alter, das mit dem 18. Geburtstag endet. Aber die beiden haben den Kontakt gehalten.

Ohne Familie oder Freunde

Kein Wunder in Anbetracht der vielen kleinen bis ausgesprochen großen Herausforderungen, die die beiden zusammen bewältigt haben. Und es seien die schweren Momente, die schlechten Nachrichten, die man überbringen müsse, die Vormund und Mündel ganz besonders zusammenschweißten, sagt Bartnig später selbst.

Souleymane Magassa ist vor sechs Jahren als 17-Jähriger nach Magdeburg gekommen. Er ist aus seinem Heimatland Mali vor Krieg geflüchtet.

Über Algerien, Marokko, Spanien und Frankreich schlug er sich bis nach Sachsen-Anhalt durch. Allein. „Ich bin hergekommen und hatte keine Familie, keine Freunde, nichts“, sagt er. Aber in der Clearingstelle in Magdeburg lernte er Bartnig kennen, der sein Vormund wurde. „Herr Bartnig hat alles für mich gemacht“, erzählt Magassa. Über ihn habe er viele gute Menschen kennengelernt. „Das ist sehr wichtig für mich. Weil: Ich suche hier meine Zukunft.“

Unsicherer Aufenthaltsstatus

Dabei sah es zunächst ganz und gar nicht so aus, als könnte Souleymane Magassa in Magdeburg bleiben. In seinem Asylverfahren erklärte sich Deutschland als nicht zuständig. „Weil sie der Meinung waren, dass er durch Italien gekommen ist“, sagt Bartnig. Und laut Dublin-Verfahren ist das erste nachweislich bereiste EU-Land für das Asylverfahren zuständig. „’Ich war nie in Italien‘, hat er gesagt“, erzählt Bartnig. „Ich war in Frankreich und Spanien“, sagt Magassa.

Für den damals gerade 18 gewordenen Geflüchteten war die Mitteilung ein Schock. „Du hast gesagt: ‚Ich hab jetzt hier ein neues Zuhause gefunden und jetzt soll ich schon wieder in ein anderes Land. Das geht nicht’“, erinnert sich Bartnig. Sein ehemaliger Mündel sei an der Nachricht fast zerbrochen.

„Man hat gemerkt, wie er gelitten hat. Und da habe ich mir nur gesagt: Irgendwas musst du hier machen.“

Magassa hat sich nach dem Bescheid selbst in ein Krankenhaus eingewiesen. Monika Schwenke, Vorsitzende des Vereins refugium, erzählt, dass Souleymane aufgrund seiner Verzweiflung in einem so schlechten gesundheitlichen Zustand gewesen sei, dass er nicht ausreisen konnte. Dadurch verstrich die Rückführungsfrist nach Italien. Die Zuständigkeit für seinen Asylantrag ging dadurch auf Deutschland über. Doch das besserte Magassas Situation nicht: Asylanträge von Geflüchteten aus Mali werden in der Regel abgelehnt.

Unterstützung durch einen ehrenamtlichen Paten

Hinzu kam, dass Magassa als Volljähriger keine Unterstützung mehr durch einen Vormund hatte. Bartnig konnte deshalb nicht mehr permanent für ihn da sein. Aber der Verein refugium hat für Magassa einen ehrenamtlichen Paten gefunden – Michael Wolf. „Der Michael Wolf: Es war so eine glückliche Fügung“, sagt Bartnig rückblickend. Schwenke sagt: „Das war für Souleymane wirklich ein Glücksgriff. Also, so viel Engagement erleben wir auch nicht immer.“ Für Souleymane sei die Unterstützung des Paten der Anker für seine Zukunft gewesen. Denn Wolf hat Souleymane geholfen, einen Ausbildungsplatz bei der Schönebecker Firma Hentschel Metallbau zu finden.

Durch die zweijährige Ausbildung erhielt Magassa eine Duldung, durfte also legal in Magdeburg bleiben. Und damit endete das Engagement von Wolf nicht: „Er hat ihm bei der Schule geholfen, mit ihm regelmäßig geübt“, sagt Bartnig. Deutsch sei für ihn schwierig, sagt Magassa. „Ohne Michael könnte ich nicht die Ausbildung machen, weil in der Schule verstehe ich nicht alles.“ Aber sowohl Wolf als auch sein Meister würden mit ihm üben.

Ausbildung erfolgreich abgeschlossen

Der Einsatz hat sich gelohnt: Magassa hat am Freitag erfolgreich seine Ausbildung als Metallbauer abgeschlossen. Er will für seinen Ausbildungsbetrieb weiterarbeiten – aber wohl von Magdeburg nach Leipzig ziehen. Denn dorthin ist Familie Wolf umgezogen. Und für ihn sei es wichtig, Michael Wolf und seine Frau regelmäßig sehen zu können. Deswegen will er die Pendelei auf sich nehmen. „Michael ist wie mein Vater. Seine Frau ist wie meine Mutter“, sagt der 23-Jährige. Die Wolfs haben es offenbar ähnlich gesehen: „Sie haben gesagt: ‚Du gehörst zur Familie‘ und haben ihm ein Ticket geschenkt, sodass er jederzeit kommen kann“, erzählt Bartnig. Eine großartige Geste, findet er.

Michael Wolf (Mitte) mit Souleymane Magassa und Roland Bartnig (Foto: MDR/Maria Hendrischke)

Auf der Suche nach Mutter und Geschwistern

Souleymanes Vater und älterer Bruder sind wegen des Kriegs in Mali gestorben. Seine Mutter und seine zwei weiteren Geschwister sind ebenfalls geflüchtet. Magassa glaubt, dass sie noch in Afrika sind. Doch wo genau, weiß er nicht.

Magassa hat mit der Hilfe seines Betreuers Wolf bereits versucht, seine Familie über die Suche des Deutschen Roten Kreuzes zu finden: bisher leider erfolglos. Einer seiner Lehrer sei vor wenigen Wochen im Senegal gewesen. „Ich habe gehofft – es gibt da auch andere Familien, die aus Mali kommen, weil sie aus Mali weg sind wegen Krieg.“ Magassa hatte ihn gebeten, sich dort nach seiner Familie umzusehen. Aber sein Lehrer habe sie nicht gefunden.

Der 23-Jährige hatte seit seiner Flucht vor sechs Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. „So lange habe ich gar nichts gehört. Ich frage viele Leute, aber sie sagen: ‚Nein, ich habe sie nicht gesehen.‘ Deswegen ich habe gesagt: Vielleicht sind sie gestorben.“ Immer wieder sagt Magassa „Ich weiß es nicht“, wenn er darüber spricht, was mit seiner Mutter und seinen Geschwistern sein könnte. „Aber du brauchst einfach Gewissheit“, sagt Bartnig leise.

Aufenthaltserlaubnis durch Ausbildungsabschluss

Am liebsten würde Souleymane Magassa selbst nach Afrika reisen, um seine Familie zu finden. Aber durch seinen Status als Geduldeter kann er Deutschland nicht verlassen. Die Ausländerbehörde habe ihm davon abgeraten. „Die Gefahr ist, wenn er Deutschland verlässt, dass er nicht wieder rein darf“, erklärt Bartnig.

Doch das könnte sich nun ändern. Durch seinen Ausbildungsabschluss könne Souleymane eine bessere Aufenthaltserlaubnis bekommen, mit der er dann auch reisen könne, sagt Bartnig. Das habe die Ausländerbehörde gesagt. „Das wäre wieder ein Schritt nach vorne“, findet der Vereinsvormund. Magassa will, wenn er einen sicheren Aufenthaltsstatus und seinen Arbeitsvertrag hat, seinen Chef fragen, ob er seine Urlaubstage dazu nutzen könnte, um in Afrika seine Familie zu suchen. „Ich habe viele Urlaubstage, aber erstmal muss ich mit ihm sprechen. Wenn er es erlaubt, kann ich einen Monat da hin.“

Chance für minderjährige Geflüchtete

Der 23-Jährige sagt, dass er viel Glück gehabt habe, viele gute Menschen getroffen habe. „Herr Bartnig ist für mich ein sehr positiver, sehr wichtiger Mensch.“ Er habe ihm bei allen Problemen sofort geholfen und sei für ihn so etwas wie seine Familie geworden. „Ich muss einfach nur Danke sagen“, sagt Magassa.

Sein ehemaliger Vormund wiederum findet den Beitrag, den er geleistet hat, eher klein: „Es ist leicht, jemandem zu helfen, der unbedingt Hilfe möchte und ein klares Ziel hat.“ Souleymane sei ein ’super Mündel‘ gewesen. „Er hat Hilfe angenommen – und hatte das Glück, Leute zu finden wie Micha Wolf.“ Souleymanes Unterstützer hätten alle miteinander kommuniziert und einen Beitrag geleistet. „Dann gelingt am Ende auch was.“

Bartnig wünscht sich, dass „keine unüberwindbaren Berge aufgebaut werden für Menschen, die einfach nur noch ihre Hoffnung haben“. Dass minderjährige Geflüchtete eine Chance erhielten, ihnen ihre Möglichkeiten aufgezeigt würden – und dann geguckt werde, was sie daraus machten. „Und Souleymane wünsche ich, dass er seinen Weg geht. Und dass ich immer mal wieder von ihm höre.“